Zeitbrief Nr. 70

 


Willkommen beim 70. my_time Zeitbrief – März 2006; letzte Ausgabe

____________________________________________________________


» Inhalt

» Editorial
» Zeitnotizen und -gedanken
» Zukunft wählen
» Datumsbilder
» Okinawa-Zeit
» In der Zeit sein
» Zeitgedichte
» my_time
____________________________________________________________

» Editorial

Der 70. Zeitbrief hat eine Weile auf sich warten lassen, bevor er jetzt
erscheint – und es ist der letzte seiner Art. Nach 70 Ausgaben und
beinahe sechs Jahren Erscheinungszeit geht der Zeitbrief in den
Ruhestand. Wir bedanken uns an dieser Stelle bei allen Leserinnen
und Lesern für das Interesse und für zahlreiche Hinweise, Anregungen
und Beiträge. Das Archiv finden Sie weiterhin unter www.zeitbrief.de.

Zum Abschied am Ende dieses Zeitbriefes ein „leise Weiterwinkendes“:
drei Zeitgedichte über das Vergängliche und das, was bleibt.

Mit den besten Wünschen für Sie und Ihre Zeit

Wolfgang Hamm, Anja und Hans D. Brandhoff
____________________________________________________________

» Zeitnotizen und -gedanken

'Die Zeit ist eine geräuschlose Feile.'
(Aus Italien)

'Alles vergeht, Neues entsteht. Immer sich wandelnd
in irrendem Schweigen, verläuft des Menschen Leben.'
(Euripides)

'Fix is nix' (österreichisch)

'Soon come' (jamaikanisch)
____________________________________________________________

» Zukunft wählen

'Entscheidungen sind die einzigen uns noch verbliebenen Zukunfts-
beschreibungen. Und deshalb mag es sich empfehlen, Entscheidungen
im Probierstil zu entwerfen, sie an Lernmöglichkeiten auszurichten
oder sie so zu wählen, daß sie mehr Wahlmöglichkeiten erzeugen
als vernichten.'

(Niklas Luhmann)
____________________________________________________________

» Datumsbilder

'On Kawara wurde bekannt durch zahlreiche Arbeiten, die die einfache
Tatsache seiner Existenz dokumentieren – Telegramme und Postkarten,
die er seit 1969 bis heute immer wieder an Freunde und Kollegen
schickt, und sein bislang bekanntestes Werk, die Today-Serie, die
insgesamt mehr als zweitausend der Date Paintings [Datumsbilder]
umfaßt.

Der Künstler selbst meidet die Öffentlichkeit. Er gibt keine Interviews,
er läßt sich nicht fotografieren und erscheint nie zu den Eröffnungen
seiner Ausstellungen. Jede auffindbare Biografie über ihn meidet sein
Geburtsdatum und verweist nur auf seinen Geburtsort in Japan.

Indem er sich auf diese Weise selbst innerhalb einer Kunstszene, die
besonders großes Interesse am Künstler und seiner Person zeigt,
isoliert, verlagert sich der Nachdruck auf die einfache, jedoch
bedeutsame Wahrnehmung des Verstreichens der Zeit und auf
andere Mittel der Kommunikation.'

(Text gefunden beim Kunstverein Braunschweig. Datumsbilder
finden Sie bei Google.de, Bildersuche mit „On Kawara“)
____________________________________________________________

» Okinawa-Zeit

'Viele leben heute noch nach der „Okinawa-Zeit“. Was bedeutet, dass
sie sich keinerlei Druck unterwerfen, dass hier auch kein Bus pünktlich
fährt und dass selbst bei Hochzeiten niemand rechtzeitig erscheint.
Ein Schlüsselwort dafür heißt „tege“ - „nimm's leicht“. Es umschreibt
eine Lebenseinstellung, die meint: Mach so viel du kannst, aber lass
dich nicht von den Dingen gefangen nehmen. (...)

Bei Matsu und Ushi trifft vieles zusammen. Wohl auch das Wichtigste:
sie sind einfach gerne alt. Sie rühmen das Alter geradezu. Erst jetzt
weiß ich, was Erfahrung bedeutet, sagt Matsu. Du musst die Dinge
dafür oft getan haben, sie immer auf die gleiche Weise tun, dann erst
weißt du um ihren tieferen Sinn. Das ganze Leben den gleichen Weg
zum Feld, den gleichen Blick zum gleichen Meer. Jeden Morgen am
Familienaltar mit den Ahnen kleine Gespräche führen, jeden Abend
voll Dankbarkeit die Fenster und Türen schließen.

Lass die kleinen Momente zu, sagt Matsu, lass sie in dich dringen.
Genauso wie die Kraft des Meeres und der Erde? Ja, dann wirst du
die Freuden der späten Jahre verstehen.

Alterskraft. Nicht die Kraft, die trotz der Jahre noch verbleiben ist,
sondern eine Kraft aus jener Qualität, die erst das Alter bringt.'

(Aus einem GEO-Artikel über Okinawa,
die „Insel der glücklichen Alten“)
____________________________________________________________

» In der Zeit sein

'Das Bedürfnis, ‚in der Zeit zu sein‘, sich mit der Gesellschaft zu synchro-
nisieren, beschränkt sich für die Individuen nicht nur darauf, das eigene
Zeitempfinden mit dem Takt der gesellschaftlichen Zeit in Übereinstim-
mung zu bringen. Wenn die Uhr als ein Medium für dieses Bedürfnis
zu verstehen ist, dann verstärken die Medien wie Telefon, Radio, Film,
Fernsehen, Internet dieses Bedürfnis, indem sie es ebenfalls auf eine
kommunikative Weise bedienen.

‚In der Zeit sein‘ heißt, mit der Gesellschaft in zeitlicher Übereinstim-
mung sein, an die Medien angeschlossen, erreichbar zu sein, immerzu
und im gleichen Takt der Medien.

Die Entwicklung ist eindeutig, aber nicht unumkehrbar. Denn schon
gehört es wieder zu den ‚feinen Unterschieden‘, zur besonderen Eliten-
bildung, nicht überall erreichbar, nicht ständig angeschlossen zu sein,
sondern sich seine Freiräume zu bewahren und für sich zu sein.

Entscheidend ist deshalb, dass wir uns als handelnde Menschen selbst
dieser vielen Beeinflussungen unseres Zeitbewusstseins im klaren sind
und dass wir immer wieder versuchen, diesen von außen kommenden
Strukturierungsversuchen eine von uns bestimmte Eigenzeit entgegen-
zusetzen.'

(Knut Hickethier)
____________________________________________________________

» Zeit-Gedichte

An Leukon

Rosen pflücke, Rosen blühn,
Morgen ist nicht heut!
Keine Stunde laß' entfliehn,
Flüchtig ist die Zeit!

Trinke, küsse! Sieh, es ist
Heut Gelegenheit!
Weißt du, wo du morgen bist?
Flüchtig ist die Zeit!

Aufschub einer guten That
Hat schon oft gereut!
Hurtig leben ist mein Rath,
Flüchtig ist die Zeit!

(Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 1719-1803)

--

Abschied

Wie hab ich das gefühlt, was Abschied heißt.
Wie weiß ichs noch: ein dunkles unverwundnes
grausames Etwas, das ein Schönverbundnes
noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.

Wie war ich ohne Wehr, dem zuzuschauen,
das, da es mich, mich rufend, gehen ließ,
zurückblieb, so als wärens alle Frauen
und dennoch klein und weiß und nichts als dies:

Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen,
ein leise Weiterwinkendes -, schon kaum
erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum,
von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.

(Rainer Maria Rilke)

--

Sonett LX

Wie Well' auf Welle an den Felsenstrand,
So eilen die Minuten an das Ziel;
Bald schwillt die eine, wo die andre schwand,
Und weiter rauscht's im ewig regen Spiel.

Das junge Leben, schön im Morgenrot,
Naht still der Reife, doch von ihr gekrönt,
Ist schon sein Glanz von Finsternis bedroht,
Und es verheert die Zeit, was sie verschönt.

Die Zeit zerfetzt der Jugend buntes Kleid
Und schlägt die Furchen in der Schönheit Stirn,
Und über all der seltnen Herrlichkeit
Hör' ich bereits des Todes Sense klirrn.

Doch hält mein Lied für alle Zukunft stand,
Mit deinem Ruhm trotzt es der Zeiten Hand.

(William Shakespeare)
____________________________________________________________

» my_time

my_time / Wilhelminenstr. 21 / 24103 Kiel
Tel. 0431 - 55 78 536 / Fax 0431 – 55 79 212
Alle Angaben ohne Gewähr. Jegliche Verwendung über den privaten
Gebrauch hinaus bitte nur mit Genehmigung von my_time.